Südwest Presse - 10. März 2001

KARRIERE / Joachim Rücker tritt in Sindelfingen nicht mehr an

Den OB zieht es nach Sarajewo

Die politischen Freunde, die politische Konkurrenz - alle hatten fest mit der Wiederwahl des Sindelfinger Oberbürgermeisters Joachim Rücker gerechnet. Den Sozialdemokraten freilich zieht es am Ende von acht erfolgreichen Jahren nach Sarajewo.

RAIMUND WEIBLE

OB Joachim Rücker
FOTO: D. F. KURG

SINDELFINGEN. Anfang Februar deutete sich an, dass die Sindelfinger OB-Wahl wenig spannend werden könnte. Denn Amtsinhaber Joachim Rücker (SPD) hatte wie erwartet seine Bewerbung eingereicht, und angesichts dessen glänzender Bilanz konnte sich die politische Konkurrenz wenig Chancen ausrechnen. Doch nach seinem Rückzieher werden die Karten neu gemischt. Mit seiner Erklärung, er stehe für eine zweite Amtszeit nicht bereit, verblüffte der 49-jährige Rücker sowohl seine eigene Partei als auch den politischen Gegner. Damit hatte niemand gerechnet. Er sorgte mit der Absage im 60 000 Einwohner großen Sindelfingen für die bisher größte kommunalpolitische Überraschung dieses Jahres. Rücker entschied sich gegen ein Verbleiben im Rathaus, weil ihm ein "sehr interessantes berufliches Angebot" unterkam. Der OB wechselt, wie berichtet, voraussichtlich schon im Mai nach Sarajewo. Dort residiert der Hohe Repräsentant der Internationalen Staatengemeinschaft, der nach dem Vertrag von Dayton zuständig ist für den politischen und wirtschaftlichen Aufbau des Staates Bosnien-Herzegowina. Rücker wird Stellvertreter des Hohen Repräsentanten, des Österreichers Wolfgang Petritsch. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf die Ressorts Verwaltung und Finanzen, eine Tätigkeit, das vor allem auch das diplomatische Geschick Rückers fordert. Der OB ist auf diesem Gebiet geschult. Der Diplomvolkswirt machte Karriere im Auswärtigen Dienst, wo er zuletzt im Planungsstab tätig war. 1993 wurde er zum Sindelfinger OB gewählt. Nun sucht er eine neue berufliche Herausforderung. Die künftige Tätigkeit, sagt Rücker, verknüpfe die Erfahrungen, die er in beiden Bereichen, dem diplomatischen Dienst und der Rathausarbeit, gemacht habe. Rücker hat sich als Verwaltungschef einen glänzenden Ruf erarbeitet. Er trat in Sindelfingen an, als die Stadt mitten in der Finanzkrise steckte; Die zuvor heftig sprudelnde Geldquelle der Kommune, die Gewerbesteuer, war nahezu versiegt. Von 250 Millionen war sie auf 50 Millionen im Jahr zurückgegangen. Rücker organisierte erfolgreich den Abbau der Neuverschuldung und entwarf Strategien zur Entschuldung. Er selbst blieb bescheiden. Dass die Daimler- und IBM-Stadt haushaltspolitisch wieder in ruhigeres Fahrwasser geriet, sei ein Gemeinschaftswerk des Gemeinderats, der Bürgerschaft und der Rathausbediensteten gewesen, sagt er.

Die OB-Wahl in Sindelfingen steht nach dem Rückzieher von Rücker unter völlig neuen Vorzeichen. Die abschreckende Anmerkung im Ausschreibungstext: "Der Amtsinhaber bewirbt sich wieder", ist Makulatur geworden. CDU und Freie Wähler, die sich zuvor schwer taten, für den Urnengang am 6. Mai einen aussichtsreichen Kandidaten zu finden, wittern plötzlich Morgenluft. Für sie will Markus Grassmann (CDU) in den Ring steigen. Der 35-Jährige ist Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Eberhard Diepgen.